Verrat des Petrus

Noch ist alles dunkel. Noch hat kein Hahn gekräht.

Und trotzdem dürfte er in dieser Nacht noch kein Auge zugetan haben.

Doch - ganz kurz – als es gerade darauf ankam wach zu bleiben. Ausdrücklich hatte ihn sein Herr im Garten Getsemani darum gebeten. Und ausgerechnet da, fielen nicht nur ihm dreimal die Augen zu.

Aber jetzt ist an Schlaf nicht mehr zu denken - in dieser Nacht, wo sich die Ereignisse überhäufen. Wo die Zeit läuft - und SEINE Zeit - scheinbar abläuft. Bis zur Dämmerung dieses Tages – dem anbrechenden Sabbat – muss alles erledigt sein: Das Verhör, die Verhandlung, die Verurteilung und die Vollstreckung. In einer Nacht und einem Tag. Er hatte es gesagt, dass es so kommen wird!

Lukas 22, Vers 54 bis 62 (Gute Nachricht): Darauf nahmen sie ihn fest, führten ihn ab und brachten ihn in das Haus des Hohenpriesters. Petrus folgte von weitem.

Mitten im Hof hatte man ein Feuer angezündet, und Petrus setzte sich zu den Leuten, die dort beieinander saßen. Eine Magd sah ihn am Feuer sitzen, schaute ihn genau an und sagte: Der war auch mit ihm zusammen. Petrus aber leugnete es und sagte: Frau, ich kenne ihn nicht. Kurz danach sah ihn ein anderer und bemerkte: Du gehörst auch zu ihnen. Petrus aber sagte: Nein, Mensch, ich nicht! Etwa eine Stunde später behauptete wieder einer: Wahrhaftig, der war auch mit ihm zusammen; er ist doch auch ein Galiläer. Petrus aber erwiderte: Mensch, ich weiß nicht, wovon du sprichst. Im gleichen Augenblick, noch während er redete, krähte ein Hahn.

Da wandte sich der Herr um und blickte Petrus an. Und Petrus erinnerte sich an das, was der Herr zu ihm gesagt hatte: Ehe heute der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.

Und er ging hinaus und weinte bitterlich.

Wann haben Sie das letzte Mal geweint?

Ich weiß, „ein deutscher Junge weint nicht!“ Und im Zeitalter der Emanzipation schlucken auch die Frauen ihre Tränen runter.

In der Westdeutschen Zeitung vom 1998 konnte man lesen: Tränen sind die Waschanlage unserer Seele - Weinen ist gesund: Die Oberfläche des Organs wird feucht und sauber gehalten, Bakterien und Viren werden getötet.

Tränen sind eine Art Waschanlage des Auges: Das Reinigungssystem setzt sich automatisch in Betrieb, um die Hornhaut feucht zu halten und von Reizstoffen zu reinigen - ein Mechanismus, über den Menschen und Tiere gleichermaßen verfügen. Dennoch ist das einzige „Tränentier“ auf dieser Welt eben kein Tier: Nur beim Menschen entwickelte sich das Augenwasser zu einem Ausdrucksmittel für Emotionen, mit dem auch komplexe Gefühle wie Schmerz, Unbehagen oder Freude in verschlüsselter Form ausgedrückt werden können. Wissenschaftler haben deshalb versucht, den Ursachen für diese eigenartige Fähigkeit auf die Spur zu kommen.

Schon für Babys sind Weinen und Tränen ein wichtiges, vielleicht entscheidendes Mittel zur Kommunikation. Ihre Wirkung auf Erwachsene ist derart alarmierend und tief berührend, dass man alles tut, um das Kind zufrieden zu stellen und im wahrsten Sinne des Wortes zu „stillen“.

Von Tränen als Mittel der Kommunikation machen Frauen bekanntlich häufiger Gebrauch: Amerikanerinnen durchschnittlich 5,3-mal im Monat, männliche US-Bürger immerhin 1,4-mal.

Bei den Deutschen ist es ähnlich: Von Allensbacher Demoskopen befragt gaben nur 13 Prozent der Frauen (aber 47 Prozent der Männer) an, in den letzten Jahren nicht geweint zu haben.

Wozu braucht aber der Mensch diese eigenartige Fähigkeit überhaupt? Bei der Untersuchung der Tränenflüssigkeit stießen die Wissenschaftler zunächst auf Bestandteile mit keimtötender Wirkung. Solche Substanzen sind allerdings auch im Speichel enthalten, und es leuchtet deshalb nicht auf Anhieb ein, wofür ein Mensch „Rotz und Wasser“ braucht, was schon mit „Spucke“ allein zu erledigen wäre. Forschungen haben jedoch zu weiteren Erkenntnissen geführt. US- Biochemiker William H. Frey (Minnesota) hatte bei Versuchspersonen mit Hilfe von Zwiebeln oder durch Betrachten von herzerweichenden Filmen Tränen für seine Untersuchungen erzeugt.

Frey konnte schließlich in der Tränenflüssigkeit das Hormon Prolaktin isolieren, das unter anderem bei Gefahr oder Erregung produziert wird. Und er konnte nachweisen, dass Tränen, die aus Kummer und Rührung vergossen werden, mehr Prolaktin enthalten, als Tränen, die beim Zwiebelschneiden entstehen.

Also liegt die Vermutung nahe, dass ein Unterdrücken des aufsteigenden Impulses zum Weinen der Gesundheit schaden könnte. Vor allem Männer, die nach dem Motto „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ dazu erzogen wurden, sich immer unter Kontrolle zu haben, bezahlen diese Haltung oft mit gesundheitlichen Störungen.

© Ladislaus Kuthy, Westdeutsche Zeitung vom 16. Februar 1998, Seite 16

Das ist interessant, nicht wahr!

Wann haben Sie also das letzte Mal geweint?

Nun, das ist nicht gerade das, was man sich wünscht. Auch Petrus wollte so nicht in die Kirchengeschichte eingehen. Dafür war er viel zu temperamentvoll.

Seit damals muss er für vieles herhalten, ohne sich dagegen wehren zu können.

So wird er für unser Wetter verantwortlich gemacht. Er wurde zum ersten Papst erklärt und dann noch diese alte Geschichte mit dem Hahnenschrei. Alle Jahre wieder wird sie in der Passionszeit erzählt. Fast 2000 Jahre geht das nun schon so. Zum Auftakt von Karfreitag gehört die Verleugnung und der Hahnenschrei.

Seitdem wird auch so manches Kirchendach von einem Hahn geschmückt, der unaufhörlich Tag für Tag und Jahr für Jahr an diese alte Geschichte erinnert und uns so zugleich zur Wachsamkeit mahnt.

So stellt z.B. die Evangelisch-Lutherische Auferstehungskirche Surheide bei Bremerhaven ihre Kirche im Internet wie folgt vor: Auf der Kirchturmspitze steht ein großer Hahn? Der ist so groß wie eine Zimmertür, obwohl er von unten gar nicht so groß aussieht. Der Hahn dreht sich je nach dem woher der Wind kommt. Er erinnert an die Geschichte von Petrus, der Jesus verleugnete, als es für ihn gefährlich wurde.

An diese schlimme Geschichte erinnert der Hahn auf unserem Kirchturm. Es ist so als ob er auf die Menschen herab kräht: Ihr Menschen, denkt an den Petrus. Gehört ihr nicht auch zu Jesus? Macht es nicht so wie Petrus!

© http://www.auferstehungskirche-surheide.de/unserekirche/unsere_kirche.htm

So wird seit fast 2000 Jahren mit Fingern auf den armen Kerl gezeigt. Dabei gibt es von Petrus viel mehr, viel besseres und auch vorbildhafteres zu berichten, als ausgerechnet diese eine Sache vom Hinterhof.

Eigentlich hieß er ja Simon. Er war verheiratet und besaß ein Haus in Kapernaum. Dort arbeitete er als Fischer zusammen mit seinem Bruder Andreas. Sein Bruder Andreas war es auch im guten Sinne schuld, dass er überhaupt Jesus kennen gelernt hat und somit einer von den Zwölfen wird. Den Namen Petrus - was übersetzt »Felsen« bedeutet - erhält er von Jesus selbst, bei ihrer ersten Begegnung.

Als Jesus seine Jünger später fragt, für wen sie ihn halten, zeigt Petrus Durchblick und antwortet stellvertretend für die Zwölf: „Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes“ (Matthäus 16, Vers 16). Daraufhin wird er von Jesus mit folgenden Worten bestätigt und erneut berufen: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen“ (Matthäus 16, Vers 18).

Im Jüngerkreis gilt Petrus als der Führende, er steht in allen Apostellisten an erster Stelle, spricht für alle Jünger und gehört zu den drei Aposteln, die dem Herrn besonders nahe standen.

Petrus ist temperamentvoll und begeisterungsfähig, seine Entscheidungen kommen aus ganzem Herzen. Er ist mutig und risikofreudig. Von den Zwölfen, ist er der einzige, der es wagt, auf Jesu Wort hin, auf dem Wasser zu gehen. Das er dabei nass wird, ist eine andere Geschichte.

Von den Zwölfen ist er der einzige, der sich zuerst bei der Fußwaschung dagegen sträubt. Das er nach dem Einwand Jesu anschließend ein Vollbad von ihm haben will, ist eine andere Geschichte.

Von den Zwölfen ist er der einzige, der seinem Herrn sagt: „Wenn du ins Gefängnis musst, komme ich mit und wenn du sterben solltest, sterbe ich mit dir!“ Dass er anschließend seinen Herrn verleugnet und der Hahn kräht, ist eine andere Geschichte.

Petrus ist entscheidungsfreudig und voller Tatendrang, mutig und risikofreudig. Immer vorneweg. Immer ganz schnell. Einer, der zuerst redet und anschließend über das nachdenken muss, was er gesagt hat. Einer der zuerst handelt und anschließend sich das anschauen muss, was er angestellt hat. Petrus ist ein Choleriker, wie er im Buche steht. Mit all den guten Eigenschaften, die in solchen Führungspersönlichkeiten stecken und all den Schwächen, die dazu gehören. Er ist es gewohnt zu entscheiden und zu handeln, Dinge auf den Weg zu bringen und Beschlüsse anderen mitzuteilen.

Doch hier auf diesem Hinterhof sieht alles für ihn ganz anders aus. Hier ist er mutterseelenallein. Jesus, der, für den er lebt, für den er sogar sterben wollte, er ist ihm weggenommen worden, abgeführt und verhaftet.

Langsam und unauffällig ist er ihm gefolgt, bis auf diesen Hinterhof. Irgendwo in irgendeinem Gebäude in diesem Haus des Hohenpriesters wird sein Herr und Meister festgehalten, verhört und vielleicht sogar gefoltert.

Petrus ist allein. Die anderen sind nicht mitgekommen. Jetzt und hier auf diesem Hof kann Petrus nichts mehr entscheiden. Die Entscheidung ist ihm aus der Hand genommen. Jesus hat entschieden, sich freiwillig und ohne Gegenwehr auf den Kreuzweg zu begeben.

So hat er es von Anfang an und immer wieder gesagt, Markus 10, Vers 45 (Einheitsübersetzung): Der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.

Petrus wird das erst später verstehen. Hier auf diesem Hof versteht er nichts mehr. Auf diesem Hof ist Endstation für ihn. Keine großen Worte mehr. Auch Taten sind nicht mehr gefragt. Keine Entscheidung! Abwarten!

Doch warten ist nicht seine Stärke.

Petrus sitzt fest - Auf diesem Hof, in seinen Gedanken - Er wird nicht verhört, angeklagt oder gar gefoltert. Kein Soldat steht ihm gegenüber. Kein Polizist ist in der Nähe. Kein Ankläger weit und breit.

Nur eine Frau erkennt ihn. Eine Magd schaut ihn durchdringend und prüfend an. Nicht die barbarischen, unmenschlichen, tagelangen und zermürbenden Verhörmethoden der Nazis oder der Stasi oder anderer vergleichbarer unmenschlicher Machtregime bringen Petrus zu Fall, sondern der einfache Satz, einer noch einfacheren Frau: „Du gehörst auch zu ihnen“ (Lukas 22, Vers 58b). Und er sagt: „Nein!“

Dreimal wird er so gefragt, ob er dazu gehört, zu diesem Mann aus Nazareth. Dreimal sagt er nein. Beim dritten Mal kräht der Hahn.

Wir können mit Fingern auf Petrus zeigen und uns fragen, wie kann man nur. Der will Christ sein, ein Kirchenführer sogar?

Mir macht diese Geschichte Mut. Die Bibel berichtet nicht von großen Helden, sondern von Menschen, die genauso armselig und schwach sind, wie ich. Diese Geschichte lässt mich ehrlich werden. Ich muss nicht so tun als ob. Bei Gott darf ich ehrlich und echt sein. Gott hält meine Fehler und mein Versagen aus. Deshalb ist ja auch Christus ans Kreuz gegangen. Damit ich einen Ort habe, wo ich mit meiner Schuld hin kann. Damit ich eine Stelle habe, wo ich wirklich wahrhaftig sein darf und ganz armselig, eben ich.

Auch die Geschichte mit Petrus ist hier nicht zu Ende. Jesus dreht sich um und schaut seinen Jünger an. Da fällt dem Petrus alles ein, was Jesus genau so voraussagt hatte, als er wieder einmal so die Klappe aufriss. Petrus tut dass beste, was er tun kann: Er verlässt den Hof, wird sich seiner Schuld und seinem Versagen bewusst und heult.

Tränen sind nicht schlimm. Im Gegenteil, sie sind sogar äußerst gesund! Aber es ist schlimm, wenn man seine Schuld nicht wahrhaben will und seine Tränen runterschluckt. Und so tut als ob alles in Ordnung wäre.

Weshalb hat sich Petrus eigentlich nicht erhängt? Es ist genauso wie Judas schuldig geworden. Letztlich hat er Jesus genauso verraten wie Judas. Und was hatte er vorher für große Töne gespuckt!

Wenn wir gesündigt haben, ist es sehr entscheidend, dass wir Jesus anschließend nicht aus dem Blick verlieren. Jedes Mal, wenn wir sündigen, tun wir in Wahrheit nichts anders als das, was Judas oder Petrus taten: Wir verraten unseren Herrn! Jede Sünde ist Verrat an Jesus!

- Judas hatte Jesus verraten und schaute nur noch auf seine Sünde und erhängte sich.

- Petrus hatte Jesus verraten und schaute Jesus an und weinte bitterlich.

Mir macht das unendlich viel Mut, und vielleicht geht es Ihnen ja auch so. Denn wie oft benehmen wir uns heute genauso wie Petrus damals und schämen uns für unseren Herrn, verleugnen ihn und tun so, als wenn wir nichts mit ihm zu tun hätten. Wie oft schweigen wir, wo wir merken, dass wir reden sollten. Wie oft lassen wir uns einfach treiben, ohne Farbe zu bekennen, ohne Stellung zu beziehen. Wie oft halten wir uns einfach raus, wenn das Gespräch auf Glauben und auf Kirche kommt, und wir verpassen die Gelegenheiten und meinen dass doch sowieso kein Hahn danach kräht!

Und wenn er dann kräht - wie damals - und wenn uns Jesus dann anschaut - wie damals - was wird er uns wohl sagen?

Nach seiner Auferstehung hat Jesus mit Petrus über diese Sache noch einmal geredet. In Johannes 21 wird Petrus von Jesus nach seiner Liebe befragt. Und Petrus sagt: „Du weißt doch alles. Du kennst mich doch und du weißt, ich hab dich lieb!“

Es ist so schwer für starke Menschen schwach zu sein. Auch Petrus, der Felsen musste es erst lernen sich von Jesus lieben zu lassen. Und genau darauf kommt es beim christlichen Glauben an: Nicht auf das, was ich tue und leiste, sondern auf Jesus und darauf, dass ich mich von ihm lieben lasse. Bei Jesus muss ich mich meiner Tränen und meines Versagens nicht schämen, und er wird mich weder auslachen, noch jemals sagen: „Wie konntest du nur!“

Durch das Kreuz hat Jesus meine Schuld getilgt und mir seine Liebe erklärt! Sich von Jesus lieben und sich von Jesus die Schuld vergeben zu lassen - das müssen wir allerdings tatsächlich schon zulassen!



Werd ich dir folgen, was auch geschieht?

Werd ich dir treu sein, wenn keiner mich sieht?

Kann ich mein Kreuz tragen, den schmalen Weg gehen

und mich selbst verleugnen, dem Stolz widerstehen?

Dreimal werde ich schwach, dreimal leugne ich dich.

Dreimal fragst du mich nur: liebst du mich?

Du weißt alles, Herr, du weißt, dass ich dich liebe.

Selbst wenn alles fällt, so weiß ich doch ich bliebe in deiner Liebe.

Werd ich dir folgen ans Ende der Welt,

alles verlassen, was mich noch hält?

Werd ich im Kampf bis zum Ende bestehn,

die Hände am Pflug und nicht mehr rückwärts sehn?

© Text/ Musik: Albert Frey, D&D Medien, Ravensburg 1999



Krefeld, den 25. März 2005
Pastor Siegfried Ochs



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