Vom Totensonntag zum Ewigkeitssonntag

Er rief mich an und bat um ein Gespräch. Er sagte: „Ich habe schon alle Pfarrer dieser Stadt angerufen und keiner hat Zeit oder will mit mir reden. Dann weinte er und fragte, ob ich ihn nicht mal besuchen könnte.“

So lernten wir uns an einem regnerischen und trüben Oktobertag kennen. So grau wie der Tag, so schwermütig war seine Stimmung. Er erzählte mir vom Tod seiner Frau und das er nicht darüber hinwegkommt, dass sie nicht mehr da ist und er jetzt alleine ist. Er habe sogar schon an Selbstmord gedacht.

Dann sagte er mir, dass er jeden Tag auf den Friedhof geht, stundenlang mit seiner Frau spricht und sogar zu Hause ihre Kleider trägt, nur um ihr nahe zu sein.

Er brauchte lange um mit dem Tod seiner Frau fertig zu werden. Ich versuchte so gut es ging, ihm dabei zu helfen. So kam er zu uns in die Gemeinde, ging in einen Hauskreis. Öffnete sich anfangs auch für den Glauben an Jesus und zog sich später überraschend für alle von der Gemeinde wieder zurück.

Wir verloren uns aus den Augen, bis ich davon hörte, dass er tot in seiner Wohnung aufgefunden wurde. Heute denke ich, er ist mit dem Tod seiner Frau nie wirklich fertig geworden.

Was für einen Trost hätte es für ihn geben können? Was hätte ihm wirklich geholfen?

Was kann einen wirklich Trauernden trösten, wenn man keine begründete Hoffnung auf ein ewiges Leben hat? Was kann im Angesicht von Schmerz und Trauer wirklich aufrichten und helfen, wenn man keinen Halt in Jesus hat?

So begehen heute viele Menschen in unserem Land Totensonntag. Sie sind in den letzten Tagen auf die Friedhöfe gegangen und haben die Gräber geschmückt, oder sie winterfertig gemacht. Sicherlich werden sie sich dabei wieder an die Verstorbenen erinnert haben. Vielleicht hat mancher sich nachher alte Fotos angeschaut, oder die Erinnerungen an gemeinsame und längst vergangene Zeiten wurde wieder lebendig.

So ist der Novembermonat mit seinen Erinnerungstagen rund um Totensonntag vor allem Gedenkmonat an die Verstorbenen. Und auf vielen Grabsteinen kann man lesen: "Geliebt, beweint und unvergessen."

Unseren Totensonntag verdanken wir Friedrich Wilhelm III von Preußen. Er bestimmte durch Kabinettsorder vom 17.11.1816 den letzten Sonntag des Kirchenjahres zum „allgemeinen Kirchenfest zur Erinnerung an die Verstorbenen.“

Dieser Tag ist in gewisser Weise das evangelische Gegenstück zu Allerseelen.

Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde, Band 1, Seite 583

Am 1. November gedenkt die katholische Kirche an Allerheiligen, den Märtyrern und Heiliggesprochenen. Auch die lutherische Kirche begeht den 1. November als 'Gedenktag der Heiligen'. Das Fest hat seinen Ursprung in den Kirchen des Ostens, wo man sich schon im 4. Jahrhundert zu unterschiedlichen Terminen an die Märtyrer erinnerte.

Einen Tag später, am 2. November begeht die Katholische Kirche den Gedenktag 'Allerseelen' - das katholische Gegenstück zu unserem Totensonntag - und gedenkt aller verstorbenen Gläubigen.

Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde, Band 1, Seite 39

Gedenktage und Erinnerungen sind wichtig und notwendig. So begehen wir ja auch im November den Volkstrauertag, den Gedenktag an die Gefallenen aus den beiden Weltkriegen und erinnern uns daran, dass Krieg nur Tod und Entsetzen mit sich bringt.

Gedenktage und Erinnerungen sind wichtig. Auffällig ist nur, dass die Bibel uns nichts in dieser Richtung mitteilt. Bis auf zwei interessante Hinweise. Der erste stammt vom Prediger Salomo

Prediger 1, Vers 11: Man gedenkt derer nicht, die früher gewesen sind, und derer, die hernach kommen; man wird auch ihrer nicht gedenken bei denen, die noch später sein werden.

und der zweite stammt vom Schreiber des Hebräerbriefes.

Hebräer 13, Vers 7: Gedenkt an eure Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben; ihr Ende schaut an und folgt ihrem Glauben nach.

Totengedenktage und Ahnenkult im weitesten Sinne sind der Bibel fremd. Das unterstreichen auch die eben zitierten Stellen. Auch in der Urgemeinde gab es keine Totengedenktage.

Eine erste Erwähnung in der christlichen Kirche finden wir 636 n.Chr., wo der Bischof Isidor von Sevilla seinen Mönchen eine Messe für die Seelen der Verstorbenen am Tag nach Pfingsten vorschreibt.

998 n.Chr. führte der Abt Odilo von Cluny eine Gedächtnisfeier am 2. November für die Verstorbenen der ihm untergebenen Klöster ein. Diese Gedächtnisfeier verbreitete sich rasch über das ganze Abendland bis es zum festen Termin im katholischen Kirchenkalender wurde und als Allerseelen begangen wurde.

Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde, Band 1, Seite 39

Wir finden in der Bibel zwar keine Totengedenktage, aber die Trauer um die Verstorbenen hat seinen festen Bestandteil.

Man zerriss bei der Todesnachricht seine Kleider, zog ein Sackgewand an und legte Schuhe und Kopfbedeckung ab. Dagegen verhüllte man den Bart oder das ganze Gesicht. Auch über dem Kopf zusammengelegte Hände galten wohl als Trauergeste. Man schor sich kahl und unterließ Waschen wie Salben. Auch streuten sich manche Erde auf den Kopf, wälzten sich im Staub, legten oder setzten sich in Asche.

Die Zeit strenger Trauer dauerte in der Regel sieben Tage. Da das Totenhaus als unrein galt, konnten dort keine Speisen zubereitet werden. Nachbarn und Freunde brachten deshalb den Angehörigen des Verstorbenen 'Trauerbrot und Freudenbecher'. Doch hielt man aus Trauer auch Fasten.

Am wichtigsten von allen Trauergebräuchen war die Totenklage. Sie begann im Trauerhaus und zog sich über den Leichenzug hin. Die Totenklage reichte von unartikulierten, gellenden Schreien, Wehlauten wie Ach, Nennung des Namens oder Verwandtschaftsgrades bis zu geprägten Formeln bei hochgestellten Persönlichkeiten. Verpflichtet zur Klage waren die nahen Verwandten, denen sich die Umstehenden anschlossen. Manchmal wurden auch Klagelieder gedichtet, zu deren bekanntesten die Klage des David auf Saul und Jonathan, sowie auf Abner zählen. Die Klage war vor allem Lobpreis des Toten.

Da Gott ganz auf der Seite des Lebens steht, machte alle Berührung mit Totem unrein. Besonders streng ging man gegen Totenbeschwörer vor. Dauernder Aufenthalt bei den Gräbern galt als typisch heidnisch.

Die jüdischen Trauersitten in ntl. Zeit schlossen sich eng an das Alte Testament an. Besonders erwähnen die Evangelien so genannte „Klageweiber“, an die Brust schlagen, Flötenspiel und Fasten. Das Begräbnis wurde von den engsten Angehörigen ausgerichtet, aber alle, die einem Leichenzug begegneten, waren ihm zu folgen verpflichtet. Am Grab oder in der Synagoge hielt ein bezahlter Redner einen Lobpreis auf den Toten.

Die frühen Christen übernahmen jüdische, aber auch manche griechisch-römische Trauersitten. Judenchristen hielten um Stephanus eine Totenklage (Apostelgeschichte 8, Vers 2). Die ungezügelte Klage wurde beim christlichen Begräbnis durch gefasstes Gebet, vor allem von Psalmen ersetzt.

Der Apologet Aristedes schrieb zu Beginn des 2. Jahrhunderts über ein christliches Begräbnis: „Wenn ein Gerechter von ihnen aus der Welt scheidet, so freuen sie sich und danken Gott und geben seiner Leiche das Geleit, als zöge es nur von einem Ort zum anderen.“

Das große Bibellexikon, Band I, Seite 173 - 176

Es ist ein gravierender Unterschied, ob wir diesen Tag als Totensonntag oder als Ewigkeitssonntag begehen, als Gedenktag an die Verstorbenen oder als Ausblick auf den wiederkommenden Herrn.

Totensonntag ist Erinnerung an die Verstorbenen, Trauer und Abschied, Einsamkeit und Leere. Im Zentrum steht der Tod mit den Wunden, die er bei den Hinterbliebenen reißt und schlägt.

Ewigkeitssonntag ist Ausblick auf das ewige Leben in der Gegenwart Gottes; Hoffnung und Gewissheit auf ein Leben nach dem Tod und auf einen neuen Himmel und eine neue Erde, die allein Gott schaffen kann, Gemeinschaft mit dem auferstandenen Herrn über das Grab hinaus und Fülle des Lebens in und durch Jesus. Im Zentrum steht der auferstandene und wiederkommende Herr und die in Jesus begründete Hoffnung auf die Auferstehung von den Toten.

Am Totensonntag steht im Zentrum der Verstorbene und die Trauer der Hinterbliebenen. Da stimmen wir die Totenklage an und rühmen den Verstorbenen. Da beklagen wir den Verlust eines lieben Menschen und trauern.

Ich habe es noch im Ohr, wie er mir sagte: „Hätte ich mich doch nur anders und besser verhalten, als sie noch lebte!“

Die letzten Anrufe aus den Flugzeugen und den brennenden Türmen galten den Menschen, denen man am allernächsten stand, um ihnen noch einmal, ein letztes  Mal zu sagen, dass man sie liebt.

Totensonntag macht uns bewusst, das unser Leben zeitlich begrenzt ist und es ein letztes Mal und ein Zuspät gibt.

Am Ewigkeitssonntag steht im Zentrum der auferstandene und wiederkommende Herr. Da stimmen wir das Lied der Hoffnung und der Zukunft an und rühmen den erhöhten Herrn. Da trösten wir uns mit dem Wissen, dass Christen, die gestorben sind, ewig bei Gott leben und von den Toten wieder auferstehen werden.

Am Totensonntag könnte man über folgenden Text sprechen:

Jesus Sirach 38, 16 - 24: Mein Kind, wenn einer stirbt, so beweine ihn und klage wie einer, dem großes Leid geschehen ist, und verhülle seinen Leib, wie es ihm zukommt, und bestatte ihn mit Ehren. Du sollst bitterlich weinen und von Herzen betrübt sein und Leid tragen, wie er es verdient hat, etwa einen Tag oder zwei, damit man nicht schlecht von dir redet; und tröste dich auch wieder, damit du nicht allzu traurig wirst. Denn vom Trauern kommt der Tod, und die Traurigkeit des Herzens schwächt die Kräfte. In der Anfechtung bleibt die Traurigkeit, und ein Leben in Armut tut dem Herzen weh. Laß die Traurigkeit nicht in dein Herz, sondern weise sie ab und denk ans Ende und vergiss es nicht; denn es gibt kein Wiederkommen. Du hilfst ihm nicht, und dir tust du Schaden. Denke daran: wie er gestorben, so musst du auch sterben. Gestern war's an mir, heute ist's an dir. Weil der Tote nun seine Ruhe hat, so höre auch du auf, ihn zu beklagen, und tröste dich wieder, weil sein Geist von ihm geschieden ist.

Ein deprimierender dunkler und hoffnungsloser Text. Und doch gibt dieses Wort aus den Apokryphen - von denen Luther sagte: Sie gehören nicht zur Heiligen Schrift und sind doch lehrreich zu lesen - den Charakter von Totensonntag sehr anschaulich wieder.

Da ist keine Hoffnung. Da ist nur Trauer und Klage, Weinen und Schmerz. Es gibt kein Wiederkommen. Der Tote hat nun sein Ruhe. Wie, wo und warum wird nicht gesagt.

Zur Zeit des alten Testamentes und die Apokryphen gehören als Spätschriften dazu, gab es keine begründete Auferstehungshoffnung. Der Tod bedeutete ein Versinken in das Schattenreich der Toten, in dem man Gottes nicht mehr gedenkt (Psalm 6, Vers 6 oder Psalm 115, Vers 17). Die Verstorbenen führen ein bejammernswertes Dasein, das nicht mehr ein Leben zu nennen ist (Psalm 88, Verse 6 und 11). Daneben gibt es im AT einzelne Aussagen, die auf die Auferstehung hinweisen. Der Herr tötet und macht lebendig, führt ins Totenreich und wieder heraus (1. Samuel 2, Vers 6 oder Psalm 16, Vers 10).

So glaubte man im Alten Testament schon daran, dass Gott sich auch um die Toten kümmern wird und er sie aus dem Tod wieder herausführen wird. Nur man konnte nicht sagen, wie, wann und wodurch das geschehen wird.

Am Ewigkeitssonntag könnte man über folgende Texte sprechen:

Johannes 11, Verse 25 bis 26: Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben.

Johannes 14, Verse 1 bis 3: Euer Herz erschrecke nicht! Glaubt an Gott und glaubt an mich! In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Wenn's nicht so wäre, hätte ich dann zu euch gesagt: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten? Und wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, will ich wieder kommen und euch zu mir nehmen, damit ihr seid, wo ich bin.

Wenn wir diesen Tag als Totensonntag begehen, bleiben wir im dunklen Teil dieses Tages stehen. Ich will es einmal so sagen: Im besten Falle bleiben wir im alten Testament stehen, bei der Totenklage, beim Weinen und Trauern. Wir sind dann im Diesseits gefangen und begraben mit den Toten auch alle Hoffnungen und Ahnungen auf ein ewiges Leben.

Im schlimmsten Falle begeben wir uns in einen ungesunden Ahnenkult hinein, der bei einigen zu Spiritismus und Totenbefragungen führt, bei anderen zu Reinkarnationsphantastereien und bei dritten ganz eigene und seltsame Blüten treibt.

Nur wenn wir vom Totensonntag zum Ewigkeitssonntag kommen, verlassen wir den dunklen Teil und begeben uns in den strahlenden, unaussprechlich tröstlichen Teil dieses Tages. Ich will es einmal so sagen: Wir begeben uns dann vom alten ins neue Testament, von der Begrenzung in die Unendlichkeit, vom Diesseits in die Ewigkeit hinein.

Und wir sehen Jesus Karfreitag für uns und unsere Schuld stellvertretend am Kreuz sterben und begeben uns dankbar und anbetend in den österlichen Festsaal hinein.

Hier riecht schon alles nach Ewigkeit, obwohl der Tod seinen Schrecken noch nicht verloren hat. Hier riecht schon alles nach Hoffnung, nach Zukunft und Morgen, obwohl die Gegenwart noch alles bestimmt. Hier hat der Tod nicht mehr das letzte Wort, obwohl er immer noch mitredet. Hier regiert schon das Leben, obwohl immer noch Menschen sterben. Hier ist von Klage schon keine Rede mehr, obwohl immer noch Menschen trauern. Hier rühmt man schon den Lebendigen, obwohl immer noch Toten Denkmäler gesetzt werden.

Hier wartet man auf seinen Tag, auf den Tag aller Tage, auf den Tag Jesu Christi, der zugleich der letzte Tag und doch auch der erste Tag, der Auferstehungstag ist, obwohl man uns deswegen für verrückt erklärt.

Nur wenn wir vom Totensonntag zum Ewigkeitssonntag kommen, können wir aufatmen und durchatmen, Trost und Hoffnung empfangen.

Hansjörg Bräumer hat in seinem Buch „Auf dem letzten Weg“ das so formuliert: Drei Geburtstage bestimmen das Leben des Christen: das Hineingeborenwerden in diese Welt, die neue Geburt (Wiedergeburt) und die Stunde des Sterbens. Die Wiedergeburt ist die Antwort Gottes auf die persönliche Entscheidung des Menschen für Jesus als seinen Herrn und Heiland. Für den Wiedergeborenen ist das Gehen aus dieser Welt der Eingang in die ewige Herrlichkeit. Die Bereitung zum Sterben beginnt mit der Wiedergeburt, dem sogenannten zweiten Geburtstag, den ein Mensch auf dieser Erde erleben kann."

Hansjörg Bräumer, Auf dem letzten Weg, Seite 64 - 65

Auf   diesem   Hintergrund   verstehen  wir  den  Ausspruch  von  Karl Barth richtig: „Gott allein ist mein Jenseits.“ Und ich füge hinzu: Alles, was wir darüber hinaus über das Leben nach dem Tod sagen ist von Übel!

Damit  aus  Totensonntag  Ewigkeitssonntag  werden  kann,  brauchen wir Jesus. An Jesus vorbei gibt es keine Hoffnung und kein Leben und wir bleiben im dunklen Teil dieses Tages und bei der Totenklage, beim Ahnenkult und beim hoffnungslosen Gedenken stehen.

Dieser Tag macht deutlich, wie notwendig es ist, verlorenen Menschen die Liebe Gottes nahezubringen.

Ich habe mich oft gefragt, ob Herr Jünger – von dem ich anfangs erzählte – auch wirklich ein „Jünger Jesu“ geworden ist und was wir hätten tun und sagen können, damit er sein Leben Jesus ganz und gar anvertraute?



Krefeld, den 25. November 2001
Pastor Siegfried Ochs



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